von Bernhard Ross

26. April 2020
Lieber Otto,
deine Frage nach meinen Erfahrungen mit dem Plattdeutschen hat mich zunächst einmal überrascht; doch sie führte bei mir zu einer aufschlussreichen Reflexion. Ich machte mir erstmals überhaupt gründlichere Gedanken über mein ganz persönliches Verhältnis zur plattdeutschen Sprache; das war mir vorher gar nicht so bewusst.
Ja, Plattdeutsch war die Sprache meiner Eltern und ihrer Herkunftmilieus. Wir Kinder sollten sie aber nicht lernen, denn da schwang so das Gefühl mit, als handele es sich beim Platt kulturell um Minderwertiges, also um ein nicht besonders feines Sprachgut. Es war vielleicht so gerade noch ein Tribut an das Gewohnte, viel mehr aber auch nicht. Die Grenzziehung war klar und deutlich. Auf keinen Fall wurde mit „Höherstehenden“, schon gar nicht mit Geistlichen, Ärzten oder Lehrpersonen, so gesprochen wie zuhause. Nein. Da wurde Hochdeutsch bemüht. Mein lieber Vater fiel dabei nicht gerade durch grammatikalische Feinheiten auf. Er blieb noch lange bei „die Käse“ oder „der Taschentuch“. Und ob im Einzelfall ein „mir“ oder „mich“ richtig gewesen wäre, irritierte ihn selbst auch nicht sonderlich. Während ich mich für ihn schon mal peinlich fremdschämte.
Ich lernte Hochdeutsch. Ich lernte Englisch. Ich lernte Französisch. Das war für Vater wohl Anlass für stillen Stolz und verheimlichte Genugtuung. In Unkenntnis des Bildungssystems hielt er schon mal Realschule für eine Sprossform des Studiums („mien Junge studeert“). Ich selbst jedoch fühlte mich im Bildungsverlauf eher unfreiwillig entfremdet, von seiner Nähe entfernt. Plattdeutsch, seine Sprache, hätte ich von Herzen gerne gelernt und, gerade auch mit ihm, gerne gesprochen. Um wieviel mehr noch wären wir uns wohl nähergekommen? Heute denke ich: Plattdeutsch ist doch eigentlich meine Vatersprache!
Latein kommt mir jetzt in den Sinn. Das war vermutlich die illusionäre Sehnsuchtssprache meines Vaters. Ein wahres Prädikatskommunikativ, geschickt und beeindruckend von den eher Gebildeten eingestreut ins Alltagsgespräch. Dat möök wat her. „Strunzen“, dieses eine Wort nur, würde dafür auf Plattdeutsch reichen. Latein, „das war richtig was“. Es machte auf eine unterschwellige, aber dennoch deutliche Weise dominant. Oder gar überlegen, wie von der Geistlichkeit in Liturgie und Gesang zelebriert. Da ließ der Vater nach einem sonntäglichen „Tantum ergo sacramentum“ schon mal durchblicken, wie sehr er es begrüßen „täte“, wenn ich Priester würde.
Platt und Latein. Zwischen, nicht mit ihnen, bin ich aufgewachsen. Dem Plattdeutschen gilt wohl auf ewig mein emotionales Heimweh und dem Latein meine intellektuelle Sehnsucht. Daran will und werde ich nicht rücken. Das soll so bleiben. Diese Melancholie gönn ich mir. Wenn mir, wie „Pott un Deckel“ nur hin und wieder so eine vertraute, passende plattdeutsche Redensart oder etwas lateinisch Erhellendes gelingt, bin ich versöhnt.
Heutzutage noch regelrecht Plattdeutsch zu lernen oder zu lehren ist zwar begrüßenswert, ich persönlich aber halte das in letzter Konsequenz für Luxus. Luxus im Sinne von „außerordentlich wünschenswert“, aber auch nicht so ganz natürlich. Vielleicht sogar jenseits der Realität? Dennoch. Schön, wenn sich Menschen, so wie Du, gerade in unserer immer mehr verflachenden Alltagskultur – mit immer mehr „gewöhnlichen“ Ausdrücken – diesen „Sprachluxus“ gönnen, ja, sich dafür sogar leidenschaftlich einsetzen.
Ich möchte aber aus meiner Vatersprache kein Luxusgut machen. Für mich darf auch sie sogar den normalen Gang alles Irdischen gehen. Es liegt ja an uns selbst, was daraus wird.
Unser Plattdeutsch ist ein hohes Kulturgut, was nach wie vor der öffentlichen Wertschätzung bedarf. Als historische Sprache geachtet, reich im Fundus einmaliger Ausdrucksweisen, lesend gewöhnungsbedürftig aber umso tiefgehender, wohlig wärmend im Klang (wenn authentisch gesprochen), gesprochen oder gelesen, oder auch nicht, egal, aber bitte nicht künstlich aufgepäppelt. Und schon gar nicht neunmalklug aufgepfropft. Nein. Platt, dat kanns nich studeeren, dat moss kennen. Für eine auf Punkt und Komma festgelegte Eingliederung in den öffentlich-rechtlichen Bildungskanon der Schule wäre mir diese Herzenssprache zu schade …
Heimat und Sprache, das braucht keine Förmchen, das braucht Leben.
Schön dat ick dat es maol säggen droff. So grüßt mit einem herzlichen Guetgaohn
seinen um wenige Ecken mit ihm verwandten lieben Otto
Bernhard Roß (Jahrg. 1943) vom Wietesch
Aus:
Wat, de kann Platt
Eine Anthologie des Plattdeutschen
Herausgeber: Heimatforscher Bernd Robben, Lingen-Emsbüren